Die Projektoren by Meyer Clemens

Die Projektoren by Meyer Clemens

Autor:Meyer, Clemens [Meyer, Clemens]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783104031873
Herausgeber: FISCHER E-Books
veröffentlicht: 2024-08-28T00:00:00+00:00


Georg steht in der Tür zum Wohnzimmer. Er blickt den Vater an, der die geöffneten Hände noch in der Luft hält, in der Mitte des Zimmers, das Flackern des Fernsehers bewegt sich auf seinem Gesicht. Wo ist die Mutter? Schläft sie schon? Aber warum sagt Vater Gedichte auf, wenn niemand zuhört? Fast sieht es so aus, als würde der Vater weinen, aber dann entdeckt er den Jungen, der im Schlafanzug in der Tür steht, der Vater dreht sich weg, wischt sich mit beiden Händen übers Gesicht.

Wenig später sitzt Georg vorm Sessel auf dem Teppich, hat seinen Rücken an die Beine des Vaters gelehnt.

»Es gibt auch im Sozialismus Kinderkrankheiten und Schlimmeres, mein Sohn.«

»Schlimmeres?«

»Ja, aber auch wenn wir Menschen nicht alle Krankheiten besiegen können, glauben wir nicht dennoch an die Errungenschaften und den Fortschritt der Medizin?« Auf dem Fußboden, direkt neben Georg, eine Flasche Wein, das halbvolle Glas auf der Sessellehne. Oder trinkt der Vater Schnaps? Georg kann den Atem des Vaters riechen. »Da drinnen bin ich Kommunist, mein Junge.« Georg hört, wie der Vater sich auf die Brust schlägt. »Und das wird sich nie ändern. Aber sie wollen mich hier nicht, mich und meine Ideen.«

»Ideen?«, fragt Georg, weiß aber, dass der Vater die Filteranlagen meint. Will ihm von seinen Ideen erzählen, von der Gruppe erzählen, von seinem Stamm, von seiner Bande, von Heiko Ludwig, will erzählen, wie er Maik besiegt und zu seinem Kameraden gemacht hat, will erzählen, wie die Stimmen im Güntzturm von anderen und neuen Zeiten kündeten und flüsterten und … »Das mit dem Gewehr fand ich gut«, sagt er stattdessen, »und das mit dem Volk«, aber der Vater versteht nicht. »Was für ein Gewehr, Junge«, fragt er, und Georg kann die Sorge in seiner Stimme hören.

»Na, in dem Gedicht, das du aufgesagt …« Der Vater streicht ihm durch die Haare, Georg hört, wie er trinkt. »Volk und Gewehr«, sagt der Vater, »gefährliche Sache, auch wenn wir unser Land verteidigen müssen.«

Das Recht auf Notwehr, denkt Georg, oder die Abkehr von einer schwächlichen und feigen Verteidigung hin zum Schlachtruf eines mutigen und brutalen Angriffs, er starrt auf den Fernseher, der ohne Ton flimmert, das Rechteck scheint sich in den Raum hineinzuwölben, Spätnachrichten.

Georg sieht die trümmerübersäten Straßen einer Stadt. Die Kamera bleibt auf einigen ausgebrannten Panzern hängen, die wie in einem Lavastrom erstarrt zu sein scheinen, in einem Strom aus Trümmern. Vater steht auf, hockt sich vor den Fernseher und stellt den Ton lauter. Der Nachrichtensprecher erzählt etwas von Jugoslawien. Aber in Jugoslawien herrscht doch Frieden, soweit Georg das weiß, auch wenn der Marschall seit mehr als fünf Jahren tot ist. Georg will den Vater fragen, aber der hockt mit dem Rücken zu ihm. Georg hat Angst, dass er wieder von der bevorstehenden Ausreise erzählt. Ein Strom aus Trümmern, wie in einem Lavaband erstarrt. Jugoslawien.

An einem Sonnabend im Oktober 1984 hat er dieses Land zum ersten Mal gesehen. Unten auf dem Spielfeld. Er saß mit seinem Vater im Block 35, der Reihe 61 des Stadions der Hunderttausend. Auf dem Rasen spielten die Jugoslawen.



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